Litomyšl ist für zwei Dinge bekannt: Als Geburtsort des Komponisten Bedřich Smetana („Die Moldau“) und für sein prachtvolles Renaissance-Schloss. Letzteres ist der Grund, warum die ostböhmische Stadt seit 1999 zum UNSECO-Weltkulturerbe zählt. Die Ursprünge von Schloss Litomyšl gehen auf das Jahr 1568 zurück, seitdem ging es durch die Hände verschiedener Adelsgeschlechter. Sein heutiges Gesicht mit den filigranen Verzierungen erhielt das Schloss nach einem Brand im 18. Jahrhundert.
Litomyšl liegt am Ende einer waschechten Nebenbahn, die in Choceň von der Hauptstrecke Prag–Pardubice–Brno abzweigt. Nach dem Auftakt in Kutná Hora war es die zweite Station meiner Zugreise zu den Welterbestätten Tschechiens. Warum das niedliche Städtchen mehr zu bieten hat als sein berühmtes Schloss, erfährst du in diesem Bericht.
Stehplatz mit Qualität
Kaum bin ich in Kolín aus dem Schnellzug aus Kutná Hora gepurzelt, klettere ich schon in den nächsten. Diesmal ist es jedoch kein normaler Rýchlik („R“), sondern ein „Rx“. Auf der Website der tschechischen Bahn wird das etwas umständlich mit „Schnellzug der höheren Qualität“ übersetzt. Von der Qualität kann ich mich allerdings nur vom aus Gang überzeugen, denn der Zug ist knallvoll. Ich ergattere einen Stehplatz vor dem Abteil für die mobile Minibar. Der Verkäufer und sein Wägelchen mit Snacks und Getränken sind heute jedoch zur Untätigkeit verdammt, durch diesen Zug ist kein Durchkommen.
So bin ich nicht traurig, als wir nach knapp einer Stunde Choceň erreichen. Choceň ist einer dieser Orte, die eigentlich niemand kennen würde, hätte hier nicht zufällig jemand zwei Bahnstrecken im rechten Winkel übereinander gelegt. Das Leben kommt im Stundentakt, wenn die Schnellzüge aus Ost und West die Reisenden wie Lemminge auf den Bahnsteig spucken. Der Nahverkehr empfängt sie mit offenen Türen – und bringt sie in noch verschlafenere Nester im Norden und Süden.
Wie auf der Modellbahn
Auch an diesem gewöhnlichen Donnerstagnachmittag passiert das so zahlreich, dass ich froh bin, den letzten freien Platz in der Regionova nach Litomyšl zu erwischen. Nach Litomyšl? Nein, zunächst nur bis Vysoké Mýto, wie ich der Anzeige entnehme. Aus Gründen, die nur die tschechische Bahn kennt, wird die Verbindung dort nämlich am Tagesrand gebrochen. Der zusätzliche Umstieg ist aber nicht der Rede wert, wir kommen Puffer an Puffer mit dem baugleichen Anschlusszug zum Stehen.
So kann ich einen letzten Zug für heute in mein Reisetagebuch eintragen. Bei dem Geruckel fällt das allerdings gar nicht so leicht. Am Tempo liegt es nicht: Mit dem Fahrrad wäre ich vermutlich genauso schnell in Litomyšl angekommen. Entgangen wäre mir dann jedoch ein herrlicher Landbahnhof, wie man ihn sonst nur noch von der Modellbahn kennt: Zwischen Gleisanschlüssen und Güterschuppen erhebt sich ein völlig intaktes Empfangsgebäude, sein Warteraum bietet Schutz vor Wind und Wetter. Personal jedoch wurde hier schon lange nicht mehr gesehen. Insofern sind die modernen Zeiten nun auch auf der tschechischen Nebenbahn eingezogen.
Litomyšl bei Nacht
Litomyšl ist ein kompaktes Städtchen. Vom Bahnhof sind es keine zehn Minuten zur Altstadt. Und die ist überraschend ansehnlich, wie ich schnell feststelle. Um den 500 Meter langen Marktplatz, heute benannt nach dem berühmtesten Sohn der Stadt (Smetanovo náměstí), gruppieren sich prächtige Stadthäuser mit bunten Fassaden. Blickfang ist das Alte Rathaus mit seinem mittelalterlichen Turm.
Es ist noch einmal grimmig kalt geworden in diesem Märzwinter und natürlich längst dunkel. Wie schön muss es sein, hier an einem lauen Sommerabend entlang zu flanieren! Die Sache hat nur einen Haken: Auf die Idee, eine Fußgängerzone einzurchten, oder zumindest eine verkehrsberuhigte Zone, ist hier bislang niemand gekommen. Selbst am späten Abend rasen die Autos geräuschvoll über das Kopfsteinpflaster, der Platz ist heillos zugeparkt.
Schloss Litomyšl
Am nächsten Tag ist dann Schloss Litomyšl an der Reihe. Wie ein Monolith thront es auf einem grünen Hügel am nordwestlichen Ende der Altstadt. Eins kann man seinen Bauherren nicht nachsagen: Bescheidenheit. Nicht nur die Ausmaße des quaderförmigen Gebäudes sind beeindruckend, sondern auch die außerordentlich gut erhaltenen Verzierungen auf seiner Außenhaut. 8000 dieser so genannten Sgraffiti wurden in mühevoller Handarbeit in den Putz gekerbt, jedes von ihnen ein Unikat.
An diesem trüben Morgen hat sich noch kein Tourist hierher verirrt und ich kann in Ruhe durch die Anlagen streifen. Auch in der Schlossbrauerei mit angeschlossener Herberge ist noch kein Leben eingekehrt. In der Brauerei kam 1824 Bedřich Smetana zur Welt, der damals noch Friedrich hieß. Sein Vater, Bierbrauer am Hofe, soll so glücklich über seinen ersten Sohn gewesen sein, dass er im Schlosshof ein rauschendes Fest für die Bevölkerung von Litomyšl gab – fässerweise Freibier inklusive.
Musikalische Gärten
Die Kombination aus Jahres- und Tageszeit sorgt dafür, dass mir das Innere des Schlosses leider verwehrt bleibt. Stattdessen widme ich mich den Klostergärten (Klášterní zahrady), die sich zwischen den beiden Kirchen von Litomyšl erstrecken. Wo Mönche einst Heilkräuter züchteten, ist nach der Sanierung zur Jahrtausendwende ein prächtiger Stadtgarten entstanden.
Auch hier bin ich ganz allein – bis auf eine Ausnahme: Emsig, aber ohne Hast verrichtet ein Gärtner sein Arbeit. Untermalt wird sein Harken und Jäten von Musik. Es ist aber nicht das übliche Gedudel, was aus seinem Radio perlt, sondern ein klassisches Konzert. Ob es Smetana ist? Um das zu beurteilen, reicht mein musikalisches Halbwissen leider nicht aus. Passend wäre es allemal an diesem idyllischen Ort.
Rolle rückwärts
Bevor es zur nächsten Welterbestätte geht, drehe ich noch eine letzte Runde durch die Laubengänge am Marktplatz. Auch bei Tage gefallen wir die bunten Häuschen ausgesprochen gut, nur das Wetter könnte besser sein. Etwas wolkenverhangen indes ist auch meine Laune. Es dauert immer eine Weile, bis ich auf einer Reise in den „Flow“ komme. Diesmal sitzt der Alltag allerdings besonders tief in den Knochen.
Als hätte es ein Sinnbild dafür gebraucht, stolpere ich beim Versuch, den Rathaus-Turm fotografisch in Szene zu setzen („ein kleines Stück noch!“) und lege mich rücklings auf den Gehsteig. Was ohnehin nicht gerade elegant aussieht, wird wohl nur noch durch eins getoppt: Den Gesichtsausdruck, als ich mich an den Becher Joghurt in meinem Rucksack erinnere…
Nach dieser Slapstick-Einlage mache ich mich auf zum Bahnhof. Denn was hilft gegen jede Verstimmung? Eine ausgiebige Fahrt mit der Eisenbahn! Wie gut, dass ich mich gestern Abend entschieden habe, auf meinem Weg zum nächsten Ziel maximal verschlungene Pfade einzuschlagen. Doch das ist eine andere Geschichte, die ich dir bald erzähle, wenn es wieder heißt: Welterbe Tschechien.