Lappland, sagen die Finnen, habe acht Jahreszeiten. Die vielleicht schönste von ihnen nennen sie Ruska. Es ist eine Explosion der Farben, die das Land über Nacht erfasst: Bäume und Sträucher verfärben sich, Beeren und Pilze reifen, die ersten Polarlichter leuchten. Ein letztes Aufbäumen der Natur, ehe sich der Winter über Lappland legt. Und mit ihm die Dunkelheit.
Wann Ruska kommt, weiß keiner so genau. Doch wenn es so weit ist, strömt alles nach Norden – Farbe tanken. Auch meine Freundin und ich wollten uns das Schauspiel nicht entgehen lassen. Auf Verdacht haben wir uns für Mitte September zwei Tickets für den Nachtzug nach Lappland gekauft. Es sollte die erste größere Reise sein, seit es uns nach Finnland verschlagen hat. Unser Ziel: Kemijärvi, knapp über dem Polarkreis.
Nachtzug nach Lappland
Eigentlich gibt es einen direkten Nachtzug nach Kemijärvi. Wir hätten ihn von Turku bequem mit einem Umstieg erreichen können, doch heute fällt er wegen Bauarbeiten aus. Aber Finnland wäre nicht Finnland, wenn es keine Alternative gäbe. In unserem Fall: die Kurswagen nach Rovaniemi. Netter Nebeneffekt sind die deutlich gemütlicheren Fahrzeiten (Ankunft: 11 Uhr).
So beginnt unsere Reise nach einem ganz normalen Arbeitstag. Und allein das ist schon grandios: Um halb sechs klappen wir den Laptop zu, morgen früh wachen wir in Lappland auf. Und Zeit für ein Abendessen bleibt auch noch. Als das erledigt ist, packen wir unsere Sachen und radeln zum Bahnhof. Dort ist eine niedliche Rangierlok gerade dabei, die Schlafwagen an den letzten Intercity des Tages nach Tampere zu manövrieren.
Schlafwagen grün-weiß
Nachtzug in Finnland ist anders. Liegewagen? Fehlanzeige! Auch wer morgens Frühstück am Bett erwartet, wird enttäuscht. Dafür sind die Schlafwagen einfach nur phantastisch. Und riesig: Zwei grün-weiße Stockwerke türmen sich am Bahnsteig vor uns auf. Wir beziehen unser Kämmerlein mit Dusche und WC im Oberdeck. Was anderswo „Deluxe“ heißt, kostet hier gerade einmal fünf Euro extra.
Von der Abfahrt kriegen wir kaum etwas mit, so ruhig gleiten die Wagen über das Gleis. Vor dem Fenster geht derweil die Welt unter. Blitze zucken, dicke Tropfen prasseln auf die Scheibe. Und wir? Kuscheln uns in die Eulen-Bettwäsche der finnischen Eisenbahn. Es ist wie im Film; nur ohne das rhythmische Rattern, was manchen sofort ins Reich der Träume zieht.
Dösen durch Lappland
Wir schlafen dennoch tief und fest. Kurz vor Oulu werden wir zum ersten Mal wach. Gespannt schiebe ich das Rollo ein Stück nach oben. Und tatsächlich: Wieder einmal hat uns der Nachtzug in eine andere Welt katapultiert. Wo eben noch die Lichter der Stadt waren, ist jetzt ein Meer aus Bäumen, die von oben nach unten erröten. Und auch vom Regen keine Spur mehr. Zwischen den Tannenspitzen blitzt sogar hier und da die Sonne hervor.
Drei Stunden Fahrt liegen noch vor uns, also drehen wir uns nochmal um. Vor dem Fenster werden derweil die Bäume kleiner und lichter. Nicht mehr weit bis zum Polarkreis! Irgendwann treiben uns Hunger und Kaffeedurst in den Speisewagen. Vor der Theke wartet schon eine Schlange Frühstückswilliger, wie im Norden üblich herrscht Selbstbedienung.
Von Bären und Beeren
Wir setzen uns zu einer Gruppe Finnen. Sie seien auf dem Weg zu einer Bärensafari, erzählen sie. Ungläubig stochern wir in den Blaubeeren auf unserem Haferbrei. „Doch, doch“, klären sie uns auf, „etwa 1.000 Braunbären streifen durch das finnische Unterholz, Tendenz steigend!“ Je weiter nordöstlich, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, dem König des Waldes zu begegnen. Erlegen wollen sie ihn natürlich nur mit der Kamera.
Nordosten ist auch die Richtung, die der Schienenstrang mittlerweile eingeschlagen hat. Die Küstenlinie liegt seit Kemi hinter uns. Noch einmal füllen wir unsere Kaffeebecher auf, dann wird es Zeit, das rollende Hotelzimmer zu räumen. „Nächster Halt Rovaniemi“, verkündet die Ansage vom Band, „Endstation“. Wie immer bei der Bahn in Finnland geschieht das auf drei Sprachen: Finnisch, Schwedisch und Englisch.
Buntes Busvergnügen
Rovaniemi, die Stadt mit dem wunderlichen Weihnachtskult, ist für uns nur Zwischenstation. Eigentlich sah unser Plan vor, hier in den regulären Bus nach Kemijärvi zu steigen. Doch weil es an diesem Donnerstag Bauarbeiten an der Bahnstrecke gibt, wartet auf dem Bahnsteig ein Ersatzbus.
Auf wen eigentlich, wird nicht klar. Weder haben wir eine Fahrkarte nach Kemijärvi, noch sollte unser Zug je dorthin fahren. Trotzdem winkt uns der Busfahrer herbei. Wir können mitfahren – kostenlos. Dusel Nummer eins.
Die nächste Stunde kleben wir an der Scheibe. Grün, Gelb, Orange, Rot – nie wissen wir, welche Farbe hinter der nächsten Kurve den Ton angeben wird. Dazwischen immer wieder ein getupfter See, ein brausender Bach und Wolkentürme, die sich in all dem spiegeln. Auch wenn ich es als Zugfan ungern zugebe: Busfahren in Lappland ist ein Spektakel.
Kemijärvi: Stadt am See
Der Fahrer setzt uns am zentralen Busbahnhof von Kemijärvi ab. Naja, was man in Lappland eben so nennt: eine Tankstelle, ein Imbiss, ein Parkplatz. Dahinter beginnt die Natur. In Kemijärvi heißt das vor allem: Wasser. Die Stadt liegt an einem riesigen See, der praktischerweise ebenfalls Kemijärvi heißt. Mittendurch fließt der Kemijoki, Finnlands mächtigster Strom.
Kemijärvi ist ein im besten Sinn verschlafenes Nest. Die Pfade der Touristen verlaufen anderswo, Hotelkomplexe gibt es nicht. So können Barsch, Hecht und Zander weitgehend ungestört ihre Runden durch den See drehen. Auf einer Landzunge, von der einst Holzflößer auf die Reise gingen, beziehen wir unser Domizil. Und das hat wirklich alles, was man braucht: Strand, Sauna, Seeblick. Kurzum: Unser kleiner lappländischer Traum.
Hoch hinaus
Fahrräder wären gut, denken wir uns bald. Es folgt eine Odyssee durch den lokalen Einzelhandel, bei der ich schnell noch eine Mütze kaufe (sieben Grad können ganz schön kalt an den Ohren sein). Als wir die Hoffnung schon fast aufgegeben haben, landen wir im Dorfkrug. „Klar haben wir Fahrräder“, sagt die Bedienung, und nimmt uns an die Hand. Dunkle Gänge, eine schwere Tür – und dann lächeln sie uns an: zwei Prachtexemplare Marke „Tunturi“. Dusel Nummer zwei.
Tunturi heißt Berg, und das ist das Stichwort. Unsere zweirädrigen Gefährten bringen uns über einen Damm in den Weiler Isokylä. Auf einer kleinen Anhöhe steht dort ein Turm, der unser Interesse weckt. Das letzte Stück waten wir zu Fuß durch die Beerenbüsche, dann heißt es kraxeln. Oben erwartet uns ein herrlicher Blick über das wirre Labyrinth aus Wasser und Land.
Als wir uns gerade satt gesehen haben, steigt ein herzhafter Duft zu uns auf. Richtig, wir sind ja in Finnland, dem Land der Freiluft-Grillmeister. Kaum ein Finne, der ohne Würstchen in den Wald geht – ein Platz für ein Feuer wird sich schon finden. So auch hier, am Fuße des Turmes. Doch auch für Unvorbereitete wie uns hat Mutter Natur gesorgt. Eine halbe Stunde und unsere Bäuche und Taschen sind mit Blaubeeren gefüllt.
Schwitzen und Staunen
„Die Sauna ist für uns Finnen heilig“, erklärt unsere Gastgerberin Johanna am Abend, und wirft ein Stück Holz ins prasselnde Feuer. An einem Ort wie diesem nicht in die Sauna zu gehen – es wäre eine völlige Missachtung der finnischen Kultur. Zwei Stunden dauert es, den traditionellen Ofen anzuheizen. Die finnische Sauna kennt nur eine Regel: keine Regel. Mit einer Ausnahme: Nach jeder Runde Schwitzen gibt es ein kühles Bier.
Als wir einige Saunagänge und Kaltgetränke hinter uns haben, stolpern wir geradezu in das, wofür andere tausende Kilometer auf sich nehmen und Unsummen investieren: Polarlichter!
Es ist ein grünes Band, das über den Himmel wabert, zuckt und pulsiert, sich sogar im Wasser spiegelt. Darunter zwei, die sich in den Armen liegen. Sie könnten all das physikalisch erklären, doch nichts könnte in diesem Augenblick unwichtiger sein. Gerade so schaffe ich es, mich an das Einmaleins der Polarlicht-Fotografie zu erinnern, dann drücke ich ab. Es klappt auf Anhieb – Dusel Nummer drei und dickes Ausrufezeichen hinter einen perfekten Tag.
Nationalpark Pyhä-Luosto
Egal, wen wir nach Wanderzielen rund um Kemijärvi gefragt haben – die Antwort war immer gleich: Pyhätunturi! Der Pyhätunturi ist eine Bergkette, die 1938 zum ersten Nationalpark Finnlands erklärt wurde. Im Jahr 2005 verschmolz er mit dem Nachbar-Fjell zum Nationalpark Pyhä-Luosto. Von Kemijärvi aus gibt es genau eine Busverbindung am Tag. Wie wir später erfahren, perfekt abgestimmt auf die Fahrzeiten des Nachtzuges.
Der Bus hält am Besucherzentrum Navaa. Hier haben wir die Wahl zwischen drei Rundkursen. Da uns die erste finnische Erkältung noch in den Knochen steckt, entscheiden wir uns für „rot“: mittelschwer, 10 Kilometer. Die Route führt uns durch uralte Wälder, lässt uns die Geröllmassen der Isokuro-Schlucht durchpflügen und treibt uns schließlich über 375 Stufen auf den Gipfel.
Nach tollen Tagen stehen wir nun hier oben und können die unfassbare Weite Lapplands ein Stückchen begreifen. Und auch Ruska grüßt zum Abschied noch einmal mit einem Feuerwerk der Farben.
Rückreise
Für die Rückfahrt nehmen wir den direkten Nachtzug ab Kemijärvi. Am Bahnhof warten bereits acht Doppelstock-Schlafwagen auf ihren Einsatz. Sage und schreibe 304 frisch bezogene Betten, die Urlauber, Geschäftsleute und Einheimische von einer 8.000-Seelen-Gemeinde in die Hauptstadt transportieren.
Das sind Dimensionen, die wir erstmal verdauen müssen. Am besten geht das natürlich im Speisewagen. Bei Köttbullar (auch in Finnland beliebt!) und Bier lassen wir die Reise ausklingen. Es schmeckt vorzüglich, und so begeben wir uns satt, glücklich und in jeder Hinsicht zufrieden in die Arme der Eule.
Was folgt ist der einzige, klitzekleine Haken dieser Reise: Die Abfahrt mit dem Direktzug aus Kemijärvi haben wir uns mit einen Umstieg in Tampere erkauft – um 5:40 Uhr morgens. Doch auch der klappt wie am Schnürchen. So endet das Abenteuer Lappland nach einem kleinen Zwischenstopp in unserer Wohnung wieder da, wo alles begann: am Schreibtisch.
Infos kompakt
- Mehr zum Nachtzug in Finnland: Alle Strecken, Fahrpläne und Infos.
- Auf visitkemijarvi.fi findest du viele Angebote für Kemijärvi und Umgebung.
- Eine familiäre Unterkunft bietet das Strandhotel Uitonniemi. Leihfahrräder und ein typisch finnisches Mittagsbuffet gibt es im Mestarin Kievari.
- Von Kemijärvi fahren Busse nach Rovaniemi, Pyhätunturi und Salla. Auf matkahuolto.fi findest du die aktuellen Fahrpläne.
- Informationen zum Wandern im Nationalpark Pyhä-Luosto.
3 Kommentare
Netter Bericht und vor allem wunderschöne Bilder. Von dem was Du beschreibst scheint Finnland die besten Nachtzüge zu haben – vielleicht liegt’s aber einfach nur dran dass grün meine Lieblingsfarbe ist. 🙂
Hallo Bernhard,
danke für das Lob! 🙂
Und ja, die Nachtzüge in Finnland spielen ganz oben mit, vielleicht sind sie tatsächlich die besten in Europa. Warum? Nicht nur, weil sie bequem sind, sondern weil sie die Bedürfnisse des modernen Reisenden befriedigen (WLAN, Steckdosen, fast die Hälfte der Abteile mit Dusche/WC), ohne dabei die Reisekultur völlig über Bord zu schmeißen. Bestes Beispiel: Es ist ganz selbstverständlich, dass JEDER Nachtzug einen Speisewagen führt, der auch sehr rege von den Reisenden genutzt wird. Auch wenn man bedenkt, dass hier jede Nacht Hunderte Schlafwagen-Betten durch die Gegend gefahren werden – in einem Land mit 5 Millionen Einwohnern und fast ohne internationalen Verkehr –, kann man nur schwer nicht beeindruckt sein. 🙂
Viele Grüße,
Sebastian
Nach Beitragsautor
Schöner Bericht, der mich an meine Nachtzug-Reise nach Rovaniemi während meines Erasmus-Semesters erinnert. 🙂