Die Tour de France 2017 startet in Deutschland. Diese Nachricht hat mich elektrisiert. Seit meiner Kindheit liebe ich das größte Radrennen der Welt, das nebenbei jeden Frankreich-Reiseführer in den Schatten stellt. Als klar war, dass die Strecke durch Mönchengladbach führt – und damit den Wohnort meiner Schwester –, stand für mich fest: Ich würde an der Straße stehen und jubeln.
Aber warum das Peloton mit seinen 198 Fahrern nur einmal an sich vorbeirauschen lassen, wenn es auch dreimal geht? Genau das habe ich mir nach dem Studium der so genannten Marschtabelle der zweiten Etappe der Tour in den Kopf gesetzt. Mein Plan: Wenn das Fahrerfeld über Aachen ins belgische Lüttich jagt, fahre ich hinterher. Natürlich mit der Eisenbahn!
Prolog
Es ist Sonntag, der 2. Juli 2017. Der Startschuss für die 104. Ausgabe der Tour de France ist gestern mit einem Einzelzeitfahren in Düsseldorf erfolgt. Die erhoffte Sommerparty an der Rheinpromenade fiel allerdings dem Dauerregen zum Opfer, ebenso der fast schon erwartete Sieg des Deutschen Tony Martin. Auch der heutige Tag beginnt wolkenverhangen. Er sollte jedoch bedeutend erfolgreicher für den deutschen Radsport werden.
Nachdem meine Schwester und ich uns vor ihrer Haustür die Tour-Werbekarawane angeschaut haben, machen wir uns zu Fuß auf in den Stadtteil Rheydt. Hier sollte es losgehen, das verrückte Rennen „Zug gegen Peloton“. Wer wird am Ende die Nase vorn haben? Das verrät dir das folgende Protokoll.
Erster Akt: Im Regen von Rheydt
14:15
Ausgerechnet jetzt! Regenschirme springen auf, als wir unseren Standpunkt unweit des Bahnhofs erreichen. Die Zuschauer stehen in lockeren Zweier- und Dreierreihen am Straßenrand. Absperrungen gibt es keine, die Tour bleibt ein offenes Sportereignis.
14:18
Dicke Regentropfen prasseln auf den Asphalt. Das hält einen Hobbyradler nicht davon ab, triumphierend durch die Massen zu flitzen.
14:25
Mannschaftswagen rasen vorbei, über uns dröhnen Hubschrauber. Radport-Kenner wissen: Nur noch wenige Minuten bis die Fahrer kommen.
14:28
Da sind sie! Eine Gruppe von vier Ausreißern fliegt vorbei, umgeben von Kameramotorrädern. Unter ihren Rädern spritzt das Wasser auf.
14:31
Und jetzt das Hauptfeld! Das Rasseln von fast zweihundert Ketten ist beeindruckend. Es dauert kaum eine Minute, und das Spektakel ist vorbei. Ich verabschiede mich von meiner Schwester und trabe zum Bahnhof.
Zweiter Akt: Der Zug steigt in den Ring
14:40
Ankunft am Rheydter Hauptbahnhof. Mönchengladbach ist die einzige deutsche Stadt mit zwei Hauptbahnhöfen. Der Grund: Rheydt war einst eigene Großstadt, ehe sie 1975 mit Mönchengladbach verschmolz. Das Gebäude hat schon bessere Tage gesehen. Bis auf einen Buchladen sind alle Geschäfte geschlossen.
14:53
Der Regionalexpress nach Aachen kommt pünktlich an. Das Rennen beginnt!
15:19
Geilenkirchen. Wir nehmen eine westlichere Route als die Fahrer. Werde ich sie wiedersehen?
15:26
Wir passieren Nordrhein-Westfalens größtes Solarkraftwerk. Auf einer alten Sandmine erbaut, ist es ein Beispiel für den Strukturwandel im Westen. Indes begrüßt mich mein Handy in den Niederlanden – die Grenze ist nur einen Steinwurf entfernt.
15:40
Ankunft am Haltepunkt Aachen Schanz, nächstgelegene Station zur Aachener Altstadt. Noch immer regnet es Bindfäden.
Dritter Akt: Nasser Zwischenstopp in Aachen
15:42
Ich springe vom Bahnsteig die Treppe zur Lütticher Straße hinauf. Logisch, dass die Tour-Strecke hier entlangläuft. Von der letzten Stufe stolpere ich in begeisterte Menschenmassen. Unweit des Doms warten sie noch immer auf das Feld – 1:0 für den Zug!
15:54
Die ersten Fahrer nähern sich. Freiwillige kämpfen darum, die Menge von der Straße fernzuhalten.
15:56
Tête de la course: Die Ausreißer kommen, immer noch in Führung. Die Leute jubeln, schreien, kreischen. Tolle Atmosphäre!
15:57
Die Abfahrtszeit meines nächsten Zuges. Zum Glück hat er Verspätung. Mein Blick oszilliert zwischen Straße und den darunter liegenden Gleisen.
15:58
Und da ist das Peloton! Aufgereiht wie eine Perlenkette rauschen die Fahrer durch das enge Zuschauerspalier. Der Abstand der Ausreißer beträgt etwa drei Minuten. Werden sie es schaffen? Noch 61 Kilometer bis Lüttich.
15:59
Sekunden später hält der rote Dieseltriebwagen am Bahnsteig. Ich sprinte die Treppe hinunter und hechte in den überfüllten Zug. Geschafft!
16:02
Ankunft am Aachener Hauptbahnhof. Zeit für eine Pause vor dem Bahnhofsgebäude.
Vierter Akt: Mit Highspeed nach Wallonien
16:16
Der ICE International von Frankfurt nach Brüssel kommt auf Gleis 9 an.
16:21
Der Zug ist überfüllt. Ich schnappe mir den letzten Stehtisch im Bordbistro, während sich die Türen schließen.
16:28
Wir überqueren die Grenze nach Belgien. Die Telekom informiert mich über Roaming-Gebühren von 0,00 Euro. Die Zusatz-Kosten fürs Telefonieren im Ausland wurden erst vor zwei Wochen abgeschafft. Danke EU!
16:32
Erste Wolkenlücken tauchen auf, als wir über die Rennstrecke HSL 3 fliegen. Der Wettergott muss Belgier sein.
16:38
Nächster Halt Lüttich. Die Ankündigung erfolgt in vier Sprachen: Französisch, Niederländisch, Deutsch und Englisch.
16:41
Ankunft am beeindruckenden Bahnhof Liège-Guillemins. Doch für die Schönheit des filigranen Meisterwerks habe ich jetzt keine Zeit.
Fünfter Akt: Sprint Royal an der Maas
16:43
Ich eile zum Ufer der Maas, wo sich die Ziellinie befindet. Keine Spur von Regen hier in Lüttich. Die Straßen sind trocken, was gut für die Fahrer ist. Apropos: Ich habe keine Ahnung, ob sie noch unterwegs sind.
16:58
Über die goldverzierte Pont de Fragnée erreiche ich die Zielzone. Am Eingang empfangen mich Polizisten: Personen- und Gepäckkontrolle! Keine Überraschung in Zeiten des Terrors, aber immer noch lästig. Zum Glück ist die Schlange kurz.
17:03
Ich bin drin! Keinen Moment zu früh: „Nur noch 2.000 Meter für die Fahrer“, ruft der französische Kult-Sprecher aus seiner Kabine. Ich stürze mich in die Menge neben der Ziellinie.
17:04
Die Stimme des Sprechers überschlägt sich, ohrenbetäubender Jubel vermischt sich mit dem Klang hunderter Hände, die auf die Werbebande schlagen…
17:05
Sprint royal an der Maas! Der Deutsche Marcel Kittel schiebt sein Rad als erster über die Ziellinie und gewinnt. Hurra! Kittel ist Teil des belgischen Teams Quick-Step, was die Leute verrückt macht.
17:11
Einer nach dem anderen kommen die geschlagenen Fahrer ins Ziel. Darunter die ehemaligen Ausreißer. Sie wurden wie so oft auf den allerletzten Kilometern eingeholt.
17:20
Mit blutigen Knien überqueren die letzten beiden Fahrer die Ziellinie. Irgendwo unterwegs muss es einen Sturz gegeben haben. Sofort erklingt die Fanfare der Siegerehrung und Marcel Kittel betritt das Podest.
17:24
Die Tour de France an drei verschiedenen Orten, in zwei Ländern, an einem Nachmittag – das Rennen war knapp, aber dank der Deutschen Bahn hat es der Zug geschafft!
Epilog: Lüttich in der Nussschale
Nach diesem aufregenden Tag freue ich mich auf einen Abend ganz ohne Zeitdruck. Ich schlendere die Maas hinab in Richtung Zentrum. Die Mischung aus Alt- und Neubauten am Quai de Rome und Boulevard Frère-Orban erzählt die Geschichte einer Stadt im Wandel. Kohle und Stahl sind längst verglüht, Lüttich will nun Kulturmetropole sein. Die Hauptsehenswürdigkeit, die St.-Pauls-Kathedrale, versteckt sich jedoch hinter Baugerüsten.
Als ich mit der obligatorischen Tüte Pommes am Marktplatz stehe, staune ich nicht schlecht über die leergefegten Straßen. Und das, obwohl mittlerweile die Abendsonne über Lüttich lacht. Auf mich wartet indes noch die letzte Herausforderung für heute: die 374 Stufen der Montagne de Bueren, auch bekannt als steilste Treppe der Welt.
Oben angelangt genieße ich den Blick auf Backsteinhäuser, Betontürme und Hügelketten, die das Lütticher Becken umrahmen. Die Radprofis liegen derweil längst in ihren Hotels und lassen sich auf der Massagebank durchkneten. Ähnlich steile Anstiege erwarten sie erst in einigen Tagen.
1 Kommentar
Was für ein kurzweiliger Reisebericht — und verrückte Reiseidee! Danke!